Thietmars Zeitreise zu den Ottonen

Der Merseburger Bischof verfasst vor 1.000 Jahren die bedeutendste Chronik zur berühmten Herrscherdynastie. Einige der Nachrichten würden es heute in die Klatschpresse schaffen.

Er steht, so scheint es, fast ein wenig gelangweilt an einem Pult. Sein Gesicht stützt er auf der linken Hand ab, sein Bischofsstab lehnt am Pult, dahinter liegen Schriftrollen auf dem Boden. Müde und ein wenig orientierungslos blickt die Figur Thietmars den Betrachter im Schatten „seines“ Merseburger Domes an. Dabei ist der Bischof, dessen Todestag sich 2018 zum 1 000. Mal jährt, kein unbeschriebenes Blatt, ganz im Gegenteil. Sein Vermächtnis ist eine fast 200 Seiten dicke Chronik mit detaillierten Schilderungen aus seiner Zeit, aufgeschrieben zwischen 1012 und 1018. „Bei dem Werk handelt es sich um die bedeutendste Chronik aus der Zeit der Ottonen“, betont Markus Cottin, Leiter des Domstiftsarchivs und der Domstiftsbibliothek in Merseburg (Saalekreis). „Es ist das einzige Werk, das die gesamte Zeit vollständig abbildet.“

Thietmar greift in den insgesamt acht Büchern immer wieder Themen auf, die die Menschen direkt betreffen wie Missernten, Hungersnöte und Feldzüge. Er berichtet vor allem aber über die Herrscher seiner Zeit wie Otto den Großen (912-973), seine Frau Editha (910-946) und Heinrich I. (876-936). „Als Bischof kann er natürlich aus der Innensicht der Führung des Reiches berichten“, erklärt Cottin. „Und er präsentiert durchaus auch pikante Details, die heute wohl in der Regenbogenpresse zu finden wären.“

So schildert er, wie König Heinrich I. nach einer durchzechten Nacht „seine heftig widerstrebende Gemahlin“ zum Sex gezwungen hat – und das ausgerechnet auch noch verbotenerweise am heiligen Gründonnerstag. Der König sei vom „Teufel getrieben“ worden, betont Thietmar. Und er nimmt sich den Herrscher in seiner Chronik kräftig zur Brust. „Ich will zur Abschreckung und als warnendes Beispiel den Frommen nicht verschweigen, wie elend er sich einmal verging.“ Für Cottin zeigt das Beispiel, wie Thietmar die Ereignisse seiner Zeit auch einordnet und bewertet. „Er verschweigt dabei nichts und zeigt auch Fehler und Schwächen der Herrscher auf.“

Als Mitglied der Familie der Grafen von Walbeck erhält Thietmar seine Ausbildung im Stift Quedlinburg und an der Domschule Magdeburg. Schnell gewinnt er das Vertrauen des Magdeburger Erzbischofs Tagino. Dessen Einfluss ist es zu verdanken, dass Thietmar 1009 zum Bischof in Merseburg wird, vier Jahre nach der Wiedergründung des Bistums. 1015 legt Thietmar den Grundstein zum Neubau des Merseburger Domes. Zwar erlebt er dessen Weihe 1021 nicht mehr, doch seinem Ziel, das 984 zwischenzeitlich aufgelöste Bistum wieder in alter Größe zu errichten, kommt er sehr nahe.

„Sein Bistum gut darzustellen, das ist für Thietmar eine Motivation dafür, die Chronik zu verfassen“, sagt Cottin. Seine Rolle als künftiger Bischof wird ihm dabei schon früh in einem Traum vom Heiligen Laurentius verkündet, berichtet Thietmar. „Die Entstehung eines solchen Traumes würden wir heute selbstverständlich anders deuten“, betont Cottin. „Für Thietmar aber hat dieser Traum Gottes Wirken auf der Erde verdeutlicht.“ Neben seinem Bistum ist ihm aber auch generell das Zeitalter der Ottonen ausgesprochen wichtig und ein weiterer zentraler Grund dafür, seine Chronik zu schreiben.

Eine zentrale Figur dabei ist Editha, die erste Frau Otto des Großen. Zu ihrer Hochzeit 929 bekommt die angelsächsische Prinzessin von ihrem Gatten Magdeburg und 32 umliegende Dörfer geschenkt. Deren Einnahmen bilden später den Grundstock für das Erzbistum Magdeburg, das 968 gegründet wird. „Editha hat ihren Mann aber schon lange vorher zur Gründung gedrängt“, berichtet Cottin. „Otto hat es dann nach dem Sieg über die Ungarn 955 auf dem Lechfeld gelobt. Nach diesem großen militärischen Erfolg hatte er dafür den Rücken frei.“ Auch davon habe Thietmar in seiner Chronik berichtet. In der steht aber auch, wie sehr Otto seine Frau geliebt haben muss und wie lange er um sie getrauert hat – ein seltener Einblick in die Gefühlswelt eines Herrschers im 10. Jahrhundert.

Die Gründung des Erzbistums Magdeburg 968 hat aber auch direkte Auswirkungen auf Merseburg. Denn dort wird im selben Jahr das Bistum gegründet und Magdeburg unterstellt. „Zentrales Thema war damals die Missionierung der slawischen Gebiete“, erklärt Cottin. Zwar interessiert Thietmar sich durchaus für die slawischen Nachbarn, berichtet ausführlich über sie und lernt ihre Sprache. „Ausführliche Berichte über die Missionierung finden sich allerdings in seiner Chronik nicht.“

Das Christentum ist gleichwohl das entscheidende Band für Bischof Thietmar. „Alles, was christlich ist, gehört zu seiner damaligen Vorstellung von Europa“, sagt der Leiter des Domstiftsarchivs. Das erklärt dann auch wie harsch Thietmar sich gegen Heinrich II. (973-1024) wendet, als dieser mit einigen slawischen Stämmen gegen die Polen – und damit die Christen – kämpft. „Das ist für ihn ein Bund mit den Heiden, und da spart er auch nicht mit Kritik.“

Die meisten Teile der Chronik hat der Bischof selbst geschrieben. Kurfürst August von Sachsen erkannte die Bedeutung der Geschichtsquelle und ließ 1580 eine erste gedruckte Edition der Handschrift anfertigen. Im Zuge eines Tausches von Schriftgütern zwischen der königlichen Landesbibliothek und des sächsischen Hauptstaatsarchivs wurde die Chronik 1832 nach Dresden überführt. Bei Luftangriffen im Februar 1945 wurde die Chronik vor allem durch Löschwasser schwer beschädigt.
Erbe für die Nachfolger

Unumstritten ist, dass Thietmar bereits zu seiner Zeit einen großen Leserkreis erreicht hat. „Ihm es vor allem wichtig, seinen Nachfolgern seine Sicht auf die Dinge zu hinterlassen“, erklärt Cottin. Doch der Merseburger Bischof, der heute die Besucher mit seinem fast gelangweilten Blick im Schatten seines Domes empfängt, hat auch einen gewissen Ehrgeiz gehabt. „Er wollte schon auch selbst in die Geschichtsbücher kommen“, bekräftigt Cottin, „und das ist ihm gelungen“, sagt der Leiter des Domstiftsarchivs.

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