Kerzenschein aus dem Heiligen Grab
Seit fast 30 Jahren wird in der Stiftskirche Gernrode wieder das mittelalterliche Osterspiel aufgeführt. Möglich wurde das durch den Fund einer alten Pergamenthandschrift aus dem Jahr 1502.
Von Christian Schafmeister
Es ist immer wieder ein ganz besonderer Moment, wenn Ostersonntag morgens um sechs Uhr in Gernrode ein heller Lichtstrahl aus dem Heiligen Grab in die dunkle Stiftskirche dringt. Begleitet von zwei Engeln holt der Pfarrer die brennende Osterkerze aus dem Heiligen Grab, tritt aus einer kleinen braunen Holztür in den Kirchenraum und schreitet auf die Stufen zu, die zum Altarraum führen. Zehn Männer und zehn Frauen in langen weißen Gewändern tragen dieses Licht dann die Stufen zum Altar hoch und entzünden die Altarkerzen. Im Anschluss bringen die 20 Osterspieler mit ihren hellen Lichtern symbolisch die frohe Botschaft der Auferstehung Jesu unter die Gemeinde und versammeln sich am Ende mit ihren Kerzen in einem Halbkreis hinter dem Pfarrer. „Das ist immer wieder ein bewegender Augenblick“, erzählt Kantor Eckhart Rittweger, der seit Jahren für die Aufführung des Osterspiels in Gernrode im Harz verantwortlich ist. „Und ich bin ich jedes Mal wieder aufgeregt und hoffe immer, dass auch alles reibungslos funktioniert.“
Gernrode und das mittelalterliche Osterspiel
Dass die mittelalterliche Tradition des Osterspiels seit 1989 überhaupt wieder aufgenommen werden konnte, verdanken die Verantwortlichen einem überraschendem Fund. So wurde 1979 in Berlin eine Pergamenthandschrift aus dem Jahr 1502 entdeckt, eine Abschrift eines Originals aus dem 11. Jahrhundert. Und darin ist detailliert der Ablauf des Osterspiels in Gernrode beschrieben. Doch nicht nur das macht die jährliche Inszenierung in Gernrode zu einem besonderen Ereignis. Denn mit dem Heiligen Grab der Stiftskirche ist darin auch die wahrscheinlich älteste Nachbildung des Grabes Christi in Jerusalem nördlich der Alpen eingebunden.
„Der Ablauf des Osterspiels, aber auch die Bekleidung der zehn Männer und Frauen, gehen dabei auf die Originalbeschreibung zurück“, betont Kantor Rittweger. Dort ist davon die Rede, dass die Teilnehmer „bewymbelt“ seien. Und so tragen die Frauen rote Tücher auf dem Kopf, während sich die Männer eine rote Stola umhängen. Die weißen Gewänder sind in der Farbe der Auferstehung gehalten. Auch die Zahl der insgesamt 20 Darsteller geht auf die Abschrift aus dem Jahr 1502 (und so letztlich das Original) zurück. Und so ist es kein Zufall, dass es in der Stiftskirche zehn Stufen bis zum Altarraum gibt, auf denen sich die Männer und Frauen nebeneinander aufreihen. „Das Beispiel zeigt, dass sich alles, was mit dem Osterspiel in Verbindung steht, sich baulich in der Stiftskirche wiederfindet“, bekräftigt der Kantor.
Historisches Osterspiel in Gernrode: Diese Kompromisse ging die Stadt ein
In zwei Punkten sei die Gemeinde jedoch Kompromisse eingegangen, räumt der Kantor ein – bei der Anfangszeit der Inszenierung und bei den beiden Engeln. So habe man in der Anfangszeit stets bei Sonnenaufgang begonnen, das aber habe jedes Jahr zu Verschiebungen und damit zu Unklarheiten geführt. „Das heißt jetzt, dass wir in manch einem Jahr in die Kirche einziehen, wenn es noch stockfinster ist. Und dann halten sich die Osterspieler schon einmal am Zipfel des Vordermannes fest.“ Die Engel wiederum seien im Original gar nicht vorgesehen gewesen. „Die haben wir in der Anfangszeit aus Angst davor eingeführt, dass mal ein Osterspieler ausfällt, also wie eine Art Ersatzspieler.“ Neueren Datums sind übrigens auch die beiden langen Holzbänke, die auf beiden Seiten des Altarraums für die Osterspieler stehen. „Die haben 2009 die Produzenten des Films ’Die Päpstin’ mitgebracht, der in Teilen in der Stiftskirche gedreht worden ist. Auf unseren Wunsch hin haben sie uns die Bänke anschließend überlassen.“
Der eigentliche Beginn des Osterspiels ist bereits am Karfreitag. Um 15 Uhr, der Sterbestunde Jesu, wird die große Altarkerze gelöscht und in das Heilige Grab gebracht. Damit wird die Grablegung Jesu symbolisiert und die Finsternis des Todes unterstrichen. Das Grab wird versiegelt und bleibt bis Ostern verschlossen. Auch beim Einzug der Osterspieler am frühen Ostersonntag ist die Stimmung noch sehr getragen. „Wir lassen die Dunkelheit wirken, die Menschen sollen die Verlassenheit spüren und sich noch einmal in die Todessituation Jesu hineinversetzen“, erklärt Kantor Rittweger. „Wenn dann das Licht in die Kirche kommt und nicht mehr in Moll, sondern in Dur gesungen wird, dann kippt für mich persönlich die Stimmung, dann ist für mich Ostern.“
Die Spielszenen des historischen Osterspiels in Gernrode
So, wie es im Original beschrieben wurde, folgen nun drei Spielszenen. Zunächst kommen drei Frauen zum Grabe Jesu und suchen vergeblich seinen Leichnam. Dann laufen die Jünger zum Grab, um sich von dem Geschehen zu überzeugen. Und am Ende begegnet Maria Magdalena dem Auferstandenen und sieht ihn greifbar vor sich – der letzte Zweifel an der Auferstehung ist beseitigt. „Die drei Szenen korrespondieren mit den Darstellungen am Heiligen Grab, das heißt auch, das eine ist hier ohne das andere gar nicht denkbar“, betont Rittweger. Den Abschluss der rund einstündigen Inszenierung bilden eine Prozession zum Friedhof – auch den Verstorbenen soll die Osterbotschaft von der Auferstehung verkündet werden – und ein gemeinsames Osterfrühstück.
Die Resonanz auf die Wiederaufnahme der Tradition aus dem 11. Jahrhundert ist dabei seit Jahren überwältigend. „Wir haben auch viele Besucher aus dem Ausland, das zeigt allein ein Blick in unser Gästebuch.“ Doch auch die 20 Plätze für die Osterspieler sind meist schnell vergeben. „Wir haben einige, die von Anfang an dabei sind, aber immer auch eine lange Warteliste“, berichtet Kantor Rittweger.
Weitere Informationen zur Stiftskirche in Gernrode – St. Cyriakus
- Weitere Informationen zum Bauwerk finden Sie unter: Stiftskirche in Gernrode