Foto: Andreas Stedtler

Spur der Steine

Der Archäologe Holger Grönwald sucht rund um das Kloster Memleben nach der legendären Kaiserpfalz.

Eigentlich soll der Stein nur aus dem Weg geräumt werden. Denn der über 100 Kilo schwere Brocken stört die Arbeiten von Holger Grönwald und seinen Studenten.

Doch als der Archäologe den Stein dann dreht, um ihn aus dem Grabungsfeld zu entfernen, stockt ihm der Atem: „Ich sah die Rückseite und dachte: Ist das das, was ich denke, dass es ist?“ Auf dem sandfarbenen Stein sind feine Linien zu erkennen. Worte stehen dort geschrieben. Und die Art, wie sie geschrieben sind, ist verräterisch – zumindest für den Fachmann: „Die Buchstaben waren so geformt, wie es für die Zeit der Romanik typisch war“, erklärt Grönwald.

Der Archäologe macht Bilder des Quaders und schickt sie an Experten. Und die bestätigen seinen Eindruck. Es könnte sich um ein Zeugnis der mittelalterlichen Epoche handeln. Und mehr noch: Möglicherweise war der Fund Teil eines Weihsteins, der zu einem Altar aus dem 11. Jahrhundert gehörte. „Das muss jetzt noch genauer untersucht werden“, sagt Grönwald. „Aber würde es sich bestätigen, wäre das ein echter Ausnahmefund.“

Foto: Andreas Stedtler

Holger Grönwald steht, als er von dem Stein erzählt, am Rande des Grabungsfeldes in Memleben (Burgenlandkreis). Er ist ein stattlicher Typ: breite Schultern, dicke Stiefel und Dreitagebart. Zu seinen kurzen Hosen und dem beigefarbenen Hemd fehlen nur noch Filzhut und Peitsche – dann würde Grönwald locker als Double für Indiana Jones durchgehen. Der Action-Archäologe, gespielt von Harrison Ford, ist Held einer Hollywood-Filmreihe – und wie Grönwald unermüdlich auf der Suche nach den Schätzen längst vergangener Zeiten.

Doch so abenteuerlich wie im Kino läuft die Arbeit in der Grube gerade nicht ab. Denkmalpflege-Studenten der Hochschule Anhalt saugen Staub von Steinresten, zeichnen Erdschichten millimetergenau nach und befördern Schutt aus dem Loch, das die Ausmaße eines größeren Pools hat. Schicht für Schicht legen sie dabei die Zeugnisse der Vergangenheit frei. Spaten und Schaufel kommen ebenso zum Einsatz wie Pinsel und Pinzette.
Es ist eine mühsame Arbeit, die auf den ersten Blick sogar etwas unspektakulär wirkt. Sie ist jedoch der Auftakt zu einem der spannendsten Archäologie-Projekte auf – oder genauer – in mitteldeutschem Boden.

Denn Grönwald und sein Team durchwühlen einen wahrhaft historischen Untergrund. Das Feld befindet sich neben dem Kloster Memleben. König Heinrich I. und sein Sohn, Kaiser Otto I., starben hier. Der Ort hatte im frühen Mittelalter eine besondere Anziehungskraft für die beiden Herrscher. Mehrfach halten sie sich in Memleben auf. Regiert wurde damals durch das Reisen. Wo der König war, dort war die Macht. Und dort wurden auch Gesetze erlassen und Recht gesprochen. Hauptstädte gab es damals nicht, nur Hauptregionen – eine davon lag rund um Memleben.

Die häufige Anwesenheit der Herrscher ist ein Grund, weswegen ab dem 10. Jahrhundert an Saale und Unstrut viele Klöster entstehen. Aber auch praktische Erwägungen spielten eine Rolle. Denn die bedeutendsten Verkehrstrassen verlaufen schon damals oft neben den Flüssen, daher bot sich die Gegend als Mönchsresidenz an.
In Memleben wird allerdings nicht nur ein Kloster errichtet. Hier gab es zudem eine der bedeutendsten Kaiserpfalzen der damaligen Zeit. Diese Herrschaftssitze dienten den Regenten und ihrem Hofstaat für längere Aufenthalte. Wie die Pfalz in Memleben genau aussahen – das will eine Allianz aus Landesdenkmalamt, Universität Halle und der Stiftung Kloster und Kaiserpfalz Memleben nun herausfinden.

Die Grabung, die Holger Grönwald leitet, ist ein erster Ausflug in das unterirdische Reich. „Solche Forschungsgrabungen sind selten geworden“, erzählt der 44-Jährige. Archäologen seien hauptsächlich vor Bautätigkeiten im Einsatz. Sie sichern die Schätze im Boden, bevor der Untergrund zubetoniert wird. Allein die dabei gemachten Funden füllen die Archive der Denkmalämter bereits zu Genüge. Aus Forschungsinteresse wird kaum noch gegraben.
In Memleben allerdings ist das anders. Denn mit diesem Ort verbindet sich ein Rätsel, das in der Mittelalterforschung wieder heiß diskutiert wird.

„Es geht um den Standort der Kaiserpfalz“, erklärt Grönwald. Wo der Herrschaftssitz genau war, sei nämlich bis heute nicht bekannt. „Uns fehlen dazu die schriftlichen Quellen.“ Denn das Archiv des Klosters Memleben brannte während der Bauernkriege im 16. Jahrhundert nieder. „Wir haben deswegen zwischen dem ausgehenden 10. bis in das 12. Jahrhundert eine schriftlose Zeit – und damit auch wenige Informationen, was damals passierte.“

Die Grabung neben dem Kloster soll auch die Geheimnisse der unbeschriebene Epoche ans Tageslicht befördern. Und die Spur der Steine führte die Archäologen bereits bis ins späte Mittelalter. „Wir haben eine Mauer gefunden, die wahrscheinlich aus dem 14. Jahrhundert stammt“, sagt Grönwald und zeigt auf einen Steinverbund, der aus der Erde ragt. Wo die meisten Menschen eine normale Mauer sehen, eröffnet sich für Grönwald eine eigene Welt: Er deutet die Anordnung der Steinen, interpretiert das Fugenmaterial und zieht Rückschlüsse aus dem Verlauf der Mauer. „Sie ist qualitativ sehr hochwertig“, so der Grabungsleiter. Sie könne deswegen zu einem weiteren, geheimnisvolles Bau in Memleben gehören: der monumentalen Klosterkirche.

Das Gotteshaus stand einst auf dem Klostergelände. Übrig ist davon aber kaum noch etwas. Wann und wie lange sie gebaut wurde, wie genau sie aussah – diese Fragen sind noch offen. Die freigelegte Mauer gehörte vielleicht zu einem Nebengebäuden der Kirche. Und auch der Stein mit der romanischen Inschrift könnte mit ihr verbunden gewesen sein. „Vielleicht war er Teil eines Altars, der in dieser Kirche stand“, meint Grönwald. Es wäre seit langem der erste Fund, der neue Hinweise zu dem Sakralbau liefert.

Neben dem Stein und der Mauer haben die Archäologen noch Hunderte weitere Exponate gefunden, die nun untersucht werden. „Wir probieren das hier zu einem langfristigen Projekt zu machen“, sagt Grönwald und blickt über das Gelände rund um seine Grube. Weitere Forschungsgrabungen sollen auf dem Areal folgen, um mehr über die Kirche zu erfahren – und natürlich über die legendäre Kaiserpfalz. „Denn die“, sagt Grönwald, „wollen wir unbedingt noch finden.“