Skelette erzählen vom Mittelalter

Bei Ausgrabungen auf einem Klostergelände in Quedlinburg kamen 60 Gräber zum Vorschein. Die Knochen geben Aufschluss über Krankheiten, Gewohnheiten - und Morde.

Von Christian Schafmeister

Es muss kurz nach der Wende mitunter recht laut zugegangen sein auf dem Münzenberg in Quedlinburg (Harz). Tag für Tag meißelt der Besitzer des Hauses Nummer vier im Jahr 1991 in den Felsen oder greift bei seinen Umbauarbeiten sogar zur großen Bohrmaschine. Er will seinen  Kellerraum vergrößern. Dann aber gibt eine Wand nach – und der  Mann schaut plötzlich in einen Hohlraum voller Knochen. „Die hat er kurzentschlossen in ein Bettlaken eingewickelt, ist damit zu meiner Vorgängerin marschiert und hat ihr alles auf den Schreibtisch gelegt“, erzählt Kreisarchäologe Oliver Schlegel.

Später stellt sich heraus, dass es sich bei dem Hohlraum um ein Zentralgrab in  der früheren Kirche des Marienklosters handelt. Das Kloster hatte Äbtissin Mathilde 986 für ihren verstorbenen Bruder Kaiser Otto II. gestiftet. Die Entdeckung des Hausbesitzers sollte nicht der letzte Knochenfund gewesen sein, ganz im Gegenteil. 2005 fanden Archäologen weitere 60 Gräber. „Wir haben bis auf den Fels in  zwei Meter Tiefe gegraben und mehrere Lagen von Skeletten gefunden“,  erläutert Schlegel. In dem Bereich, wo früher der Friedhof des Klosters lag, hatte ein weiterer Hausbesitzer  auf dem Münzenberg Bauarbeiten geplant und wollte sich einen Keller einrichten. Zuvor aber, das war eine Auflage der Behörden, untersuchten Archäologen dort den Boden – und stießen auf die alten Grabstätten.

Erklären lassen sich all diese Funde mit der Besonderheit des Münzenbergs. Nach Auflösung des Klosters im 16. Jahrhundert siedelte sich dort einfaches Volk  an, arme Handwerker und Musiker. Sie  nutzten die Mauern der verfallenen Anlage als Steinbruch und bauten sich auf und neben der Ruine ihre Häuser. Noch heute sind die Überreste der Klosterkirche, in denen heute ein Museum  ist, daher eingerahmt und häufig sogar überbaut durch Wohngebäude. „Ich sage immer, es ist die einzige unsichtbare Kirche in Sachsen-Anhalt“, betont Schlegel.

Für den 50-Jährigen und seine Kollegen sind die Knochenfunde ein Glücksfall. „Damit öffnet sich ein Fenster in die Vergangenheit, die Skelette werfen ein Schlaglicht auf die damalige Alltagsgeschichte.“ Ausgegraben und untersucht worden sind dabei nicht nur die sterblichen Überreste der Benediktinerinnen, sondern auch von Männern und Kindern. „Das liegt einfach daran, dass der Friedhof auch für Stifter und Angestellte des Klosters offen stand“, erklärt Schlegel.

Das verraten die Knochen über die Menschen im Mittelalter

Auffällig ist, dass damals  die  Lebenserwartung nur bei 45 Jahren lag. Grund dafür war die hohe Kindersterblichkeit und das große Sterberisiko   für Frauen in der Schwangerschaft.  „Natürlich hat es auch viele ältere Menschen gegeben, aber es erreichten nur 50 Prozent der Neugeborenen das zweite Lebensjahr – und das schlägt sich in der Statistik nieder.“ Deutlich schlechter als heute stand es auch um die Zahngesundheit. „Natürlich gab es schon Karies, die konnte aber nicht behandelt werden“, erklärt Schlegel.

Oft bildeten sich daher Abszesse, und die Kieferknochen lösten sich auf. „Das muss sehr schmerzhaft gewesen sein.“ Betroffen von Karies waren vor allem reichere Menschen. „Nur die konnten sich zuckerhaltige Speisen  leisten.“ Die Ernährung hatte aber auch Folgen für die Größe der Menschen.  „Die Großwüchsigkeit war ein Zeichen für sehr gute Ernährung mit viel Fleisch und Eiweiß schon im Kindesalter“, sagt Schlegel. „Und weil sich nur wenige eine solche Ernährung leisten konnten, waren auch die Unterschiede bei der Körpergröße viel größer als heute.“ Häufig lassen die Zähne auch einen Rückschluss auf den Beruf zu.  „Schneider benutzten ihr Gebiss oft als dritte Hand, um Fäden festzuziehen, und auch das hat Spuren hinterlassen.“ Das gilt auch für den Abrieb der alten Mühlsteine aus Stein, der seinen Weg über das Mehl und Brot bis in den Mund und zu den Zähnen der Menschen fand.

Doch die Ausgrabungen auf dem Münzenberg brachten auch spektakuläre Fälle ans Tageslicht. „Wir haben sogar einen echten Mord“, betont Schlegel. So stießen die Archäologen in zwei Metern Tiefe auf das Skelett eines zwischen 40 und 50 Jahre alten Mannes, der noch heute eine Speerspitze im Rücken hat. „Das war wohl auch die Todesursache.“ Der Mann wurde in einem Kopfnischengrab bestattet. Diese waren im 12. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet. Die Leichen wurden meist in einen Tuch gewickelt und danach in die Grabstätte gelegt, in der für den Kopf zuvor eine Art Ausbuchtung in den Stein gehauen worden ist. Sie liegen dabei immer nach Osten ausgerichtet, hin zur aufgehenden Sonne. Abgedeckt wurde das Grab mit einer Steinplatte oder mit Bohlen.

Das Kopfnischengrab mit den sterblichen Überresten des Ermordeten ist eines von vier, das sich Besucher heute im Museum auf dem Münzenberg durch eine Glasscheibe in zwei Metern Tiefe anschauen können. In drei der vier Gräber liegen noch die Skelette, eine bewusste Entscheidung. „Wir wollen die Besucher emotional aufgeladen nach Hause schicken und zum Nachdenken über die eigene Vergänglichkeit anregen.“

Die sterblichen Überreste aus den anderen Gräbern lagern derweil im Landesamt für Denkmalpflege und tragen sicher noch manch Geheimnis in sich. „Wir sind mit den Untersuchungen, die  nach der Ausgrabung gemacht worden sind, jedenfalls weit entfernt von dem, was heute gemacht werden könnte“, betont der 50-Jährige.  „Mal schauen, was künftige Generationen noch alles herausfinden.“