Holzdiebe vor Gericht

Im Harz ist eine einzigartige mittelalterliche Gerichtsstätte erhalten geblieben. In der Tradition von Kaiser Otto III. wird in Darlingerode heute verhandelt.

Von Ralf Böhme

Ein verwittertes Kreuz aus Stein steht an der Dorfstraße in Darlingerode, einem Stadtteil von Ilsenburg. Es erinnert an einen mittelalterlichen Hexenprozess. Die Anklage wurde am 6. Mai 1597 verlesen, so berichtet die Chronik. Noch am selben Tag fiel die Entscheidung: Tod auf dem Scheiterhaufen. Vollstreckung sofort. Sieben Frauen starben in den Flammen. Wahrlich, ein kurzer Prozess.

Die Gerichtsstätte an der Wasserscheide von Elbe und Weser, begründet durch Kaiser Otto III. im Jahr 995, gibt es noch heute. Und sie wird genutzt, um an drei Tagen im Jahr diverse Streitfälle zu verhandeln – in aller Öffentlichkeit. Dabei werden historisch verbürgte Verhandlungen nachgestellt. Bis hin zu Mord und Totschlag – in Szene setzen dies Mitglieder der Nordharzer Altertumsgesellschaft mit Sitz im Kloster Wendhusen bei Thale. Die Interessengemeinschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, Rechtsgeschichte erlebbar zu machen. In deutschen Landen geht das nicht ohne den Rückgriff auf das erste juristische Lehrbuch, den „Sachsenspiegel“. Sein Verfasser: Eike von Repgow (1180-1235). Der Vertraute des Grafen Hoyer von Falkenstein beschreibt darin beispielhaft die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten jeglicher Art.

Umsäumt von sieben mächtigen Kastanien liegt der Platz am Rande des Friedhofs. An jedem der Bäume ist ein Findling aufgestellt. Bedeckt mit Schaffellen dienen die Steine als Sitze für Richter und Schöffen. Als Richter fungiert Heinz A. Behrens, der Vorsitzende des 46 Mitglieder zählenden Vereins. Der Bauarchäologe trägt eine Kopfbedeckung, die entfernt an eine Krone erinnert. Das Gewand ist aus gutem Stoff, passend dazu die Stiefel aus weichem Leder. Aber auch die Ordnung des Prozesses, die den Ablauf nach überlieferter Sitte festlegt, verleiht dem Amt eine besondere Würde. So steht Behrens der Platz im Westen des 1 000-jährigen Steinkreises zu. Der Gerichtsherr eröffnet die Verhandlung unter freiem Himmel mit Blick zum Sonnenaufgang.

Der Termin steht fest, das Ritual auch. Es geht um einen Holzdiebstahl, über Jahrhunderte bis in die Gegenwart hinein ein Dauerbrenner der Rechtsgeschichte. Das Volk eilt in Scharen herbei – neugierig, worum es genau geht, wer klagt, und welche Strafe der Schuldige erhält. Lange vor Beginn sind alle Zuschauerbänke belegt. Dann bläst der Richter dreimal ins Horn, wie um 1300 üblich.

Nun zieht Ruhe ein. Und das ist gut so. Wer im Publikum stört, ermahnt Behrens, muss ein Ordnungsgeld sofort zahlen: drei mittelalterliche Schillinge, frei umgerechnet zehn Euro. Das Eintreiben an Ort und Stelle übernimmt der kräftige Fronbote im grünen Wams, ausgestattet mit einer Holzkeule. Darüber wacht neben dem Richter der Schultheiß, als Bürgermeister der Vertreter weltlicher Obrigkeit.

Es tagt ein Schöffengericht. Wer kein Leibeigener ist, erklärt Behrens, kann an der Rechtsprechung teilnehmen. Frauen aus Darlingerode und der Umgebung sind, wie sich herausstellt, heute dazu eher bereit als Männer. Wie alle, die den Gerichtskreis betreten, werden sie zum Ablegen von gefährlichen Gegenständen aufgefordert und kontrolliert. Mitglieder des Heimatvereins bestätigen an dieser Stelle einander leise tuschelnd: „Genau wie heute bei Gericht.“ Mit dieser Erkenntnis bestätigen sie beiläufig die Auffassung von Behrens und Co., die im „Sachsenspiegel“ eine Quelle sehen, die die Justiz immer noch beeinflusst.

Die Empörung ist riesig, aber der Streitfall um den Holzdiebstahl ist rasch erzählt. Ankläger Peter aus Altenrode bezichtigt das nahe gelegene Kloster Drübeck, es habe widerrechtlich zwölf Tannen fällen und abtransportieren lassen. Dabei sei auch noch eine morsche Brücke kaputt gegangen.

Sein Fürsprecher, quasi der Rechtsanwalt, ist der Forstaufseher. Dessen stärkstes Argument: Der Grenzpfahl, der die Forste trennt, ist geklaut worden. Das bestätigt Graf Konrad von Wernigerode, der Landesherr. Trotzdem bleibt die Äbtissin des Klosters beim Anspruch auf die Bäume. Bäuerinnen, Waldarbeiter, Baumeister und andere Zeugen liefern diese oder jene Version. Ein harte Nuss für die Schöffen, denn Aussage steht gegen Aussage.

Der Richter, der alle hört, entscheidet. Erstens: Der Wald muss neu vermessen werden. Die Kosten übernimmt die Gemeinschaft. Zweitens: Der Holzeinschlag wird geteilt, jede Partei erhält sechs Bäume. Drittens: Sollte sich ein Grenzfrevel herausstellen, gibt es ein neues Verfahren. „Wer Grenzen verletzt, wird bestraft – bis zur völligen Enteignung“, so das Urteil. Das Volk quittiert die rasche Lösung eines großen Problems mit tosendem Beifall.

Tempo in der Rechtsprechung war schon damals ein Kriterium, berichtet Behrens. Ein Ermittlungsverfahren, endlose Befragungen, Gutachten und aufwendige Winkelzüge habe man früher als verzichtbar erachtet. „Die Verhältnisse waren natürlich auch einfacher“, räumt der Mittelalter-Kenner ein. Zurück im weißen Zelt, das als Gerichtslaube zur Vorbereitung auf die nächste Verhandlung dient, kündigt er an: „Ein Mordprozess steht an.“ Man sei aber auf alles vorbereitet. Er zeigt auf das scharfe Richtschwert. Ein Rad aus Holz lehnt an einem Baumstamm. Übeltäter können darauf gebunden und so aus dem Leben befördert werden.

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